„Die Verwaltung muss das Lernen lernen” – Interview mit Robert Gerlit zur NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen”

Wie kann eine Lernende Organisation entstehen? Darum geht es in unserer NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen“, die wir bis zum Sommer 2024 veröffentlichen werden. Um dieses Thema umfangreich zu betrachten und zusätzliche Impulse zum Lernen und Besserwerden zu geben, haben wir u.a. Interviews mit Expert:innen geführt.

Bevor diese Interviews als Teil der Studie erscheinen, freuen wir uns, erste Einblicke in vier spannende Gespräche zu geben Den Anfang gemacht haben Andreas Thürmer von der Berliner Stadtreinigung und Moreen Heine vom Joint Innovation Lab.

Heute geht‘s weiter mit Dr. Robert Gerlit.

In Kürze folgt noch das Interview mit Dr. André Göbel.

Dies ist die leicht gekürzte Fassung des Interviews, das Robert Gerlit und Andreas Steffen im Januar & Februar 2024 per Mail und WhatsApp geführt haben.

Dr. Robert Gerlit ist Informatiker und Staatswissenschaftler und lebt seit 2022 in Sydney. Als Online-Dozent lehrt er Digitales Verwaltungsmanagement an der Hochschule Landshut. Zuvor war er in leitender Funktion am Bayerischen Staatsministerium für Digitales und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität München tätig, wo er zur Verwaltungsdigitalisierung promoviert hat.

 

Hallo Robert, Du hast mehrere Artikel darüber geschrieben, was die deutsche Verwaltung von australischen Amtsstuben und generell von deren Herangehensweise an digitale Verwaltungsarbeit lernen kann. Was sind aus Deiner Sicht hier die wichtigsten Aspekte?

In kaum einem anderen Land gibt es wohl so viele Konferenzen, Studien, Fachzeitschriften, Debatten und Experten zum Thema Verwaltungsdigitalisierung wie in Deutschland. Es vergeht gefühlt kein Tag, an dem nicht ein neuer Bericht oder eine neue Studie veröffentlicht wird, irgendwo ein neues Netzwerk entsteht oder eine Veranstaltung zum Austausch einlädt. Delegationen reisen ständig nach Estland und in andere Länder, um internationale Kontakte zu knüpfen. Inzwischen gibt es Verwaltungs-Influencer und unzählige Podcasts. Die Handlungsempfehlungen, Erwartungen und Forderungen an Politik und Verwaltung, was getan werden kann, soll oder muss, damit die Digitalisierung gelingt, scheinen schon jetzt uferlos und werden immer zahlreicher. All das ist in Australien nicht einmal ansatzweise vorhanden. Forschung zum Thema spielt in der Hochschullandschaft keine nennenswerte Rolle. Die wenigen Veranstaltungen sind meist exklusiv für australische Verwaltungsmitarbeiter. Auch die Zahl der auf E-Government spezialisierten Unternehmen und Beratungshäuser ist überschaubar.

Dennoch ist Deutschland im E-Government Development Index der Vereinten Nationen in den letzten knapp 20 Jahren von Platz 10 auf Platz 22 zurückgefallen. Das Onlinezugangsgesetz gilt als gescheitert und dem Ziel, alle Verwaltungsleistungen auch über das Internet zugänglich zu machen, sind Bund, Länder und Kommunen auch mehr als ein Jahr nach Ablauf der Umsetzungsfrist kaum nähergekommen. Wir erleben viele Debatten, Diskussionen und Ankündigungen zur Digitalisierung der Verwaltung, aber erstaunlich wenig Umsetzung. Im Januar wurde der neue Digital Government Index der OECD veröffentlicht, in dem Australien den fünften Platz belegt, noch vor Estland. Digitale Verwaltungsdienstleistungen gehören hier ganz selbstverständlich zum Alltag. Mit einer Nutzungsrate von 94 Prozent machen fast alle Australier von staatlichen Online-Angeboten Gebrauch und sind damit überwiegend zufrieden. Im Vergleich dazu liegt die Nutzungsrate in Deutschland bei 56 Prozent.

Kannst du ein konkretes Beispiel nennen, woran das deiner Meinung nach liegt und welche Rolle eine lernende Verwaltung für erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung einnimmt? 

Eine Besonderheit in der australischen Verwaltung ist die Position des CIO. Diese Rolle ist hier vor allem technischer Natur und erfordert fachliche Qualifikationen. In New South Wales sind für die Besetzung der CIO-Rolle ein Hochschulabschluss in Informatik oder einer verwandten Disziplin oder gleichwertige einschlägige Erfahrungen sowie nachgewiesene Führungs- und Managementfähigkeiten im Kontext von Informationsmanagement und IT oder auch die Leitung von Reformen und die Umsetzung von Change-Management-Prozessen und entsprechenden Strategien erforderlich. Der aktuelle Minister für Digital Government in New South Wales ist unverzichtbar für die erfolgreiche Digitalisierung der Verwaltung und die strategische Führung. Allerdings ist er nicht gleichzeitig CIO. Diese komplementären Rollen haben einen erheblichen Einfluss darauf, wie die Organisation arbeitet und lernt.

 

Wie zeigt sich das im Detail?

Wenn du einen Blick auf die Karrierewege von Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung in Australien wirfst, wird dir auffallen, dass branchenübergreifende Karrierewege viel häufiger sind als in Deutschland. Der Wechsel von einer leitenden Position als IT-Manager in der Wirtschaft in die Verwaltung ist ebenso üblich wie der umgekehrte Weg. Dadurch findet ein ständiger Wissenstransfer zwischen verschiedenen Branchen, Unternehmen, politischen Ebenen und Behörden statt. Der CIO und CDO des Northern Beaches Council nördlich von Sydney war vor seiner jetzigen Rolle in öffentlichen und privaten Unternehmen tätig. Der CEO der Australian Digital Transformation Agency war zuvor Chief Customer and Digital Officer im Bundesstaat Queensland und Chief Digital and Product Officer in New South Wales. Der Wechsel zwischen Bundesstaaten und zum Bund ist nicht ungewöhnlich. Es gibt Beispiele, bei denen ein CIO nach einer Zeit in der Verwaltung zu einer NGO oder Universität gewechselt ist. Die öffentliche Verwaltung in Australien konnte in den letzten Jahren enorm von diesem digitalen Kompetenz- und Erfahrungsschatz profitieren. Indem die digitale Souveränität deutlich ausgebaut wurde, konnte in den letzten Jahren zudem die Abhängigkeit von externen Dienstleistern und Beratern stark reduziert werden.

 

Vor Deiner Arbeit in der bayerischen Ministerialverwaltung warst Du viele Jahre in der Forschung an der TU München tätig. Wenn Du Dir heute nochmal ein Forschungsprojekt aussuchen könntest, das mit den Themen „Verwaltung“ und „Lernen“ zusammenhängt, was wäre das?

Besonders interessant wäre es, einen genaueren Blick auf die verschiedenen E-Learning-Initiativen zu werfen, die in jüngster Zeit im öffentlichen Sektor entstanden sind und bereits zahlreiche Module zur digitalen Kompetenzentwicklung anbieten. Es ist entscheidend zu evaluieren, ob digitale Plattformen tatsächlich einen wirkungsvollen Beitrag leisten können und inwieweit die Erwartungen von Politik, Verwaltung, Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die der Anbieter erfüllt wurden. Eine Evaluation könnte beispielsweise untersuchen, ob digitale E-Government-Lernplattformen das Lernen verbessert und die digitalen Kompetenzen gesteigert haben. Welche Ansätze waren erfolgreich oder erscheinen vielversprechend? Wo liegen noch Stolpersteine und durch welche Verbesserungen könnte der Wirkungsbeitrag erhöht werden? Dabei wäre es wichtig, gezielt das Nutzerfeedback der Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst einzuholen, etwa durch Umfragen und Interviews, und potenzielle Barrieren zu identifizieren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung bislang von einer Teilnahme abgehalten haben. Diese Barrieren können sehr vielfältig sein und neben technischen Problemen auch auf einen Mangel an Zeit zurückzuführen sein, die der Arbeitgeber für Weiterbildungen zur Verfügung stellt, fehlender Motivation oder anderen Hürden. Basierend auf diesen Erkenntnissen können Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, um den Lernerfolg in der Verwaltung zu steigern.

 

Du arbeitest von Sydney aus remote auch als Dozent im Bereich der digitalen Verwaltung. Was beobachtest Du dort mit Blick auf die Studierenden und deren Lernverhalten?

Seit dem Wintersemester 2022/2023 bietet die Hochschule Landshut den Bachelor-Studiengang „Digitales Verwaltungsmanagement“ an. Die Ausbildung in Informatik, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften vermittelt unseren Studierenden ein Verständnis für die verschiedenen Facetten der Verwaltungsmodernisierung und deren Digitalisierung und befähigt sie, als Mittler zwischen IT und Organisation zu agieren. Unsere Veranstaltungen umfassen beispielsweise Module zu Verwaltungsprozessen und Verwaltungsorganisation, disruptiven Technologien, Lean Administration, mobilen Technologien, Process Mining oder Open Government und Open Data. Es ist deutschlandweit der Studiengang im Bereich der Verwaltungsinformatik mit dem nachweislich höchsten Informatik- beziehungsweise IT-Anteil. In diesem Jahr durfte ich bereits den zweiten Jahrgang als Online-Vorlesung aus Sydney begrüßen, was die innovativen Lehransätze unserer Hochschule und des Studiengangs verdeutlicht.

 

Wie erlebst Du dabei die Studierenden? Und was nehmen sie mit?

Unsere Studierenden kommen mit ganz unterschiedlichen Erwartungen ins Studium, haben verschiedene Interessen, bringen zum Teil bereits Erfahrungen aus einem früheren Studium mit oder arbeiten parallel als duale Studierende in der Verwaltung. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Perspektiven und Hintergründen der Studierenden ist aus meiner Sicht eine große Bereicherung für unseren interdisziplinären Studiengang und ihre spätere Arbeitswelt. Denn durch die Kombination ihres Wissens aus bisherigen Erfahrungen und bestehenden Kompetenzen mit dem durch die Lehrenden vermittelten Inhalte entstehen oftmals ganz neue und unerwartete, sehr innovative und man könnte auch sagen verwaltungsunübliche Lösungen für die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen und Probleme der Verwaltung. Durch die Einbindung von Gastreferenten stellen wir zudem einen hohen Praxisbezug sicher. Im letzten Semester waren Vertreter aus Staatskanzleien, Ministerien, Think Tanks, NGOs, Wissenschaft und Unternehmen, zum Beispiel auch aus Australien, bei uns zu Gast und Dich durften wir ebenfalls schon virtuell aus Berlin zuschalten. Diese Zusammenarbeit mit Externen erweitert nicht nur den Horizont unserer Studierenden, sondern bringt auch ihre eigenen Ideen, Erwartungen und Perspektiven zurück in die Praxis. So schlagen wir schon jetzt eine Brücke zwischen Theorie und Praxis und lernen alle dazu.

 

Lass uns zum Schluss noch einmal abschließend von oben draufschauen. Was sind deiner Meinung nach Erfolgsfaktoren mit Blick auf die öffentliche Verwaltung als „Lernende Organisation“?

Ich halte es für unerlässlich, dass Verwaltung und Mitarbeitende nicht nur grundsätzlich fähig und willens sind, sondern auch aktiv erfolgskritisches Wissen identifizieren, aufnehmen, verarbeiten und anwenden, dieses Wissen reflektieren und teilen. Dafür bedarf es einer geeigneten Strategie und Ziele, an denen sich das Lernen ausrichtet. Es ist wichtig zu klären, was aus der schier unendlichen Flut an Handlungsempfehlungen tatsächlich entscheidend ist für den Existenzzweck der Verwaltung. Als Führungskraft ist es wichtig, offen für neue Ansätze und Lösungen zu sein und eine Kultur des kontinuierlichen Lernens zu fördern. Insbesondere in der Verwaltung sollte dies in die tägliche Arbeit integriert werden. Es geht aber nicht nur darum, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für sein Team zu schaffen, sondern diese Lernkultur selbst vorzuleben. Denn die lernende Verwaltung ist am Ende nicht ein abstrakt theoretisches Gebilde, sondern besteht aus jedem einzelnen Mitarbeiter.

 

Vielen Dank für all diese spannenden Einblicke, Robert!

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