„Man kann durchs Scheitern gescheiter werden” – Interview mit André Göbel zur NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen”

Wie kann eine kommunale öffentliche Verwaltung eine Lernende Organisation werden? Zu dieser anspruchsvollen Fragestellung erarbeiten wir bis zum Sommer 2024 unsere neue NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen“. Um hierfür zusätzliche Anregungen & Impulse zum Lernen zu geben, haben wir u.a. Interviews mit Expert:innen geführt.

Bevor die Interviews als Teil der Studie veröffentlicht werden, freuen wir uns, mit jeweils einer Kurzversion erste Einblicke in vier sehr spannende Gespräche zu geben. Den Anfang gemacht haben Andreas Thürmer von der Berliner Stadtreinigung, Moreen Heine vom Joint Innovation Lab und Robert Gerlit aus Sidney.

Heute wird diese Vorschau abgerundet mit André Göbel von der FITKO.

Das ist die Kurzfassung des Interviews, das Andreas Steffen am 27. März 2024 zunächst via Videokonferenz, dann per Telefon mit André Göbel geführt hat, während der FITKO-Präsident in der Deutschen Bahn saß.

Dr. André Göbel kennt die Verwaltung und das Public Management aus vielen Perspektiven: aus der Wissenschaft, aus der Beratung, aus dem Bundestag, aus der Geschäftsführung einer landeseigenen Digitalagentur und seit November 2023 als Präsident der FITKO. Mit der Föderalen IT-Kooperation hat der IT-Planungsrat eine agile Organisation geschaffen, um seine Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zielgerichtet zu koordinieren und voranzutreiben.

Hallo André, das Akronym FITKO wurde sicherlich nicht ohne Grund für die Föderale IT-Kooperation gewählt. Wie hängt nach Deiner Beobachtung und Erfahrung eine gewisse Fitness mit erfolgreichem Lernen zusammen?

Diesen Zusammenhang wollen wir als FITKOianerinnen und FITKOianer auch selbst herstellen: Wie können wir in unserem Team aber auch insgesamt Rahmenbedingungen schaffen, die eine föderale IT-Kooperation leichter und erfolgreicher machen? Das ist auch für mich persönlich ein wichtiges Augenmerk. Ich bin zuletzt sehr viel im Land unterwegs gewesen, habe dabei unter anderem die Mitglieder des IT-Planungsrates interviewt, was sie sich unter dieser Fitness vorstellen. Dabei sind sowohl die Erwartungshaltungen als auch die Vorstellungen, wie so etwas gemessen werden kann, sehr unterschiedlich gewesen.

 

Was habt Ihr daraus für Euch selbst als Organisation mitgenommen?

Wir als FITKO haben uns selbst ein Programm verordnet, das sich „Fit4Future“ nennt. Damit verbunden ist auch eine interne Reorganisation, mit der wir einige unserer eigenen Strukturen nicht nur flexibilisieren, sondern auch Ungewolltes tatsächlich aufbrechen wollen. Unser Organisationsziel ist ein „Team of Teams“, beispielsweise mit einem gemeinsamen Ressourcenpool und indem die Möglichkeit gestärkt wird, Eigenverantwortung zu übernehmen, und wie wir mit multidisziplinären Teams uns insgesamt als lernende Serviceorganisation stärken.

 

Kann man das so verstehen, dass Ihr mit gutem Beispiel vorangehen wollt, dass dadurch andere auch etwas von Euch lernen können?

Verglichen mit vielen agilen Arbeitsstrukturen der Wirtschaft sind diese Veränderungen zunächst nicht wirklich „Rocket Science“. Dafür jedoch, wie wir durch diese Maßnahmen wiederum im Föderalismus wirken können und wirken dürfen, ist das schon ziemlich innovativ.

 

Die Entwicklung zur Lernenden Organisation ist, wie auch Innovation und Digitalisierung, kein reiner Selbstzweck. Vermutlich wollt Ihr im Endeffekt einen spürbaren Nutzen stiften. Was heißen denn positive Wirkung und Erfolg, wenn es um das Lernen einer Verwaltungsorganisation geht?

Dabei geht es vor allem um eine gewisse Freiheit als Voraussetzung, um nach außen Wirkung zu erzielen. Leider muss man sagen, dass diese Freiheit momentan noch nicht überall im erforderlichen Maß existiert. Für unsere Innenorganisation als FITKO durchaus, weil wir vieles dafür selbst festlegen können. Das nützt uns allerdings nichts, wenn es nicht auch zur Natur der Produkte und Projekte wird. Dabei werden wir sehr stark durch das Auftragswesen des IT-Planungsrates und die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir uns dabei bewegen, definiert und manchmal auch limitiert.

 

Woran bemerkt Ihr das? Hast Du ein Beispiel?

Wenn wir uns Nutzungsstatistiken zu Online-Dienstleistungen anschauen, bei denen es noch gar nicht um die Qualität, sondern zunächst nur um die reine Quantität geht, fehlt eine wichtige Komponente, um damit auch den eigentlichen Nutzen zu bewerten. Denn erst dann, auf dieser Basis, kann man fundiert auch die Zufriedenheit betrachten und darüber Erkenntnisse über die wirkliche Wirkung erhalten. Um dann daraus zu lernen und besser zu werden. Wenn man das nicht macht, fehlt ja der Zugang zu den Nutzerinnen und Nutzern, um das Produkt weiterzuentwickeln.

 

Was braucht es, damit es besser wird, damit im Endeffekt die Wirkung und Zufriedenheit steigen?

Der IT-Planungsrat hat sich auf diesen Weg gemacht – hin zu mehr Wirkungsorientierung. Und dazu gehört unter anderem auch die Arbeit mit solchen Statistikkomponenten. Es wäre ein wichtiger Schritt, dass man die Wirkungsmessung wesentlich konsequenter berücksichtigt: Schafft das betrachtete Angebot wirklich einen Nutzen? Stärkt die Architektur wirklich das Gesamtsystem Öffentliche Verwaltungs-IT? Ich drücke es mal diplomatisch aus: Wir haben hier noch viel Potenzial, was uns langfristig effizienter, kundenfreundlicher und auch wirtschaftlicher werden lassen könnte.

 

Und was wünschst Du Dir, damit echtes Lernen stattfindet und Verbesserung spürbar wird?

Es braucht meines Erachtens eine qualitative Steigerung der Aufträge in dem Sinne, dass man diese Wirkungsorientierung direkt in die Projekt- und Produktaufträge hineinschreibt und dort von Beginn an fest verankert. Das ist ja nicht nur ein technischer Aspekt, sondern auch eine fachlich-konzeptionelle Frage: Wie kann ich den Nutzen und die Wirkung messen? Wie, wo, wann und wozu befrage ich die Nutzer? Wie binde ich sie in die Weiterentwicklung eines Produktes oder eines Services ein, um zu lernen und besser zu werden? Dazu gehört auch eine gesetzliche Komponente.

 

In welcher Form?

Bei den Dingen, die sich die Parlamente als Leistungen und Angebote des Staates vorstellen, sollte grundsätzlich eine Evaluationspflicht unterlegt werden. Keine Option, sondern eine verbindliche Pflicht, die Wirkung der Services und Produkte zu messen. So etwas haben wir bisher noch gar nicht. Auch eine Wirkungsorientierung der Gesetzgebung ist ja ebenfalls Neuland.

Zum Lernen gehören Fehler elementar dazu. Allerdings haben Fehler ja meist ein mieses Image. Wie erlebst Du es in den Kommunen, hat man dort einen anderen Umgang mit Fehlern als auf Bundes- oder Landesebene?

Ja, das mit dem schlechten Image ist in der Tat leider so, aus vielerlei Gründen. In den Kommunen gibt es durchaus einige richtig gute Einzelbeispiele, jedoch noch zu wenige, die bringen uns bislang noch nicht in der föderalen Breite weiter. Nach meiner Beobachtung braucht es diesbezüglich noch unglaublich viel, um den Umgang mit Fehlern und dadurch das Lernen als Verwaltung zu verbessern.

 

Und was genau braucht es dafür?

Einen wirklichen Kulturwandel, der eben auch Chefsache sein muss, von oben beginnen und vorgelebt, von dort konsequent vorangetrieben werden sollte. Dabei sind es auch rechtliche Gründe für den momentanen Zustand. Wir haben beispielsweise bisher keine echten Experimentierklauseln. Ebenso steht das derzeitige Dienstrecht einer gesunden Fehler- und Lernkultur im Weg, weil heutzutage durch Fehler die Karriere nicht gefördert, sondern gefährdet werden könnte.

 

Was fehlt?

Es fehlt vielfach am Mut bei den Führungskräften, sich im Bedarfsfall auch mit breiter Schulter vor die Kolleginnen und Kollegen zu stellen. Und es als etwas Positives zu sehen, wenn man mal gescheitert ist. Weil man daraus lernen und durchs Scheitern gescheiter werden kann. Gleichwohl kann ich natürlich auch die Mechanismen dahinter verstehen und wir müssen differenzieren. In manchen Bereichen der Öffentlichen Verwaltung darf man sich tatsächlich keinerlei Fehler erlauben, zum Beispiel wenn diese Menschenleben gefährden könnten.

 

Allerdings besteht solch ein Risiko ja bei weitem nicht überall, was gibt es noch für Bereiche, in denen Fehler zwingend vermieden werden sollten?

Beispielsweise im Sozialsystem, in dem eine besondere menschliche Verantwortung besteht. Wenn dort ein technischer Fehler dazu führt, dass Hunderttausende ihre Auszahlung nicht erhalten, geht das gar nicht. Das kann sich niemand leisten.

 

Dafür braucht es – mit dem Stichwort „Organisationale Ambidextrie“ – zunächst eine Klarheit, wo solche Fehler definitiv nicht auftreten dürfen, und in welchen Bereichen Scheitern keine Schande, sondern erlaubt als Grundlage zum Lernen ist. Gibt es solch eine Klarheit überall? Sollte man diese Klarheit als Führungskraft zunächst selbst haben, um sie dann auch adäquat kommunizieren zu können?

Ein klares Ja.

 

Ist das eine Frage von gesetzlichen Dingen oder ein Haltungsthema?

Das wird auch durch die Kaskade der Führung bestimmt. Irgendwann wird ja jeder von jemandem geführt, auch ich. Zwar habe ich keinen direkten Vorgesetzten, trotzdem gibt es ein Aufsichtsgremium, das mich führt. Und wenn ich Fehler mache, können diese Menschen mich theoretisch und ebenso praktisch feuern, und zwar von heute auf morgen. Das macht natürlich etwas mit einem Menschen, deswegen gehen ja viele in die Konfliktvermeidung und ins Vermeiden jeglicher Fehler, ganz persönlich und ebenso innerhalb ihrer Organisation. Genau das ist aus meiner Sicht der wesentliche Hebel, den wir auch insgesamt als Gesellschaft für eine lernende Verwaltung besser erkennen und nutzen sollten.

 

Aber?

Davon sind wir leider weit entfernt. Weil das auch durch unser politisches System hemmend beeinflusst wird. Die obersten Führungskräfte des politisch-administrativen Systems sind ja meist Teil der politischen Führung, sie werden also gewählt. Wenn sie Fehler zulassen, bekommen sie leider in dem Demokratieverständnis, wie wir es heute erleben, sofort erheblichen Gegenwind von anderen Parteien. Auch viele Medien tragen zu dieser neuen Empörungskultur bei. Das hat natürlich starke Auswirkungen auf den Umgang mit eigenen Fehlern und hemmt die Lernkultur, wenn man als verantwortliche Figur ständig Gefahr läuft, an den Pranger gestellt und abgesetzt zu werden.

Ist es also komplett vergebene Liebesmüh oder reine Augenwischerei, wenn man über „Safe Spaces“ und psychologische Sicherheit spricht, weil die deutsche Verwaltung in ein gesellschaftliches Gesamtsystem eingebettet ist, das noch nicht gut genug gelernt hat, konstruktiv mit Fehlern und Scheitern umzugehen?

Ganz so pessimistisch möchte ich es nicht sehen, ein paar Hoffnungsschimmer habe ich durchaus, auch aus eigenen, selbst erlebten Erfahrungen, zum Beispiel mit der DigitalAgentur Brandenburg. Mit positivem Blick auf die Dinge, die mit Mut und echter Lernkultur gelingen können, war es möglich, mit 20 Mitarbeitenden mehr als 150 Projekte und Initiierungen in kurzer Zeit umzusetzen, die bis heute nachwirken. Ohne „Safe Spaces“ hätte das nicht klappen können. Vergleichbares möchte ich auch für die FITKO schaffen. Das ist auch eine Führungsverantwortung. Als ich meine neue Rolle angetreten habe, habe ich klargemacht, dass es mir nicht um eine spätere Wiederwahl geht. Sondern ich möchte hier etwas mit unserem Team erreichen, echten Nutzen stiften mit spürbar positiver Wirkung für Deutschland. Das klingt jetzt furchtbar pathetisch, doch wir haben tatsächlich diese Möglichkeit.

 

Wie wird das aufgenommen?

Nun ja, bereits die allerersten Gespräche hatten gezeigt, dass einige Menschen das Potenzial der FITKO noch nicht erkennen. Deswegen bauen wir unsere interne Struktur so um, dass wir selbst leistungsfähiger werden. Und meine eigene Aufgabe ist es auch, auf die relevanten externen Stakeholder zuzugehen und sie zu noch mehr Kooperation zu ermutigen.

 

Vielen Dank schon mal für diesen umfassenden Blick! Weil wir ja mit dieser Studie speziell die Kommunen und deren Lernen im Fokus haben: Was können kommunale Verwaltungen als oftmals sehr kleine Organisationen von Bund und Ländern lernen?

Nach meiner Beobachtung sind die Länder schon etwas weiter hinsichtlich ihrer Kooperationen und Shared Services, dabei auch in der Zusammenarbeit mit deren öffentlichen IT-Dienstleistern, weil diese den kommunalen Dienstleistern häufig aufgrund ihrer Größe ein Stück voraus sind. Aus meiner Sicht sollten Bund, Länder und Kommunen noch viel stärker aufeinander zugehen. Auch wenn verfassungsrechtliche Aspekte wie die kommunale Selbstverwaltung immer wieder vorgeschoben werden, bin ich überzeugt, dass wir unsere Verfassung in der derzeitigen Form genau so leben können, wie sie ist, und bei gemeinsamem Willen trotzdem mehr erreichen. Es ist übrigens auch mein Ziel, die länderübergreifende kommunale Zusammenarbeit durch verschiedene Maßnahmen zu stärken, und beispielsweise Entwicklungsgemeinschaften zu fördern, die es heute noch zu wenig gibt. Denn das gehört für mich ebenfalls zu einer lernenden Verwaltung elementar dazu, dass man noch viel mehr Möglichkeiten für solch einen übergreifenden Austausch und Zusammenarbeit schafft.

Gibt es nach Deiner Wahrnehmung ganz andere Arbeits- oder Lebensbereiche, in denen Lernen richtig gut gelingt, vielleicht sogar Spaß macht? Dafür kannst Du gern richtig fantasievoll und kreativ sein, bis ins Weltall zur Raumfahrt oder hinein in einen Ameisenstaat schauen!

(lacht) Na, ich bleibe mal irdisch. Ameisen finde ich total spannend, wobei es dort schon ziemlich starke Hierarchien gibt, das würde ich uns als Verwaltung eher weniger empfehlen. Allerdings ist deren Organisationsart und auch die Kreativität, mit der sie Probleme lösen, wirklich super. Und sie sind extrem effizient. Im persönlichen Rückblick, weil ich ganz viele andere Think-Tanks und Do-Tanks kennenlernte, die deutlich größer und oft auch viel besser finanziert sind, wird schon vieles ziemlich gut und richtig gemacht. Einiges davon könnte man auch weiterdenken, zum Beispiel dass man bereits in Förderbescheiden festschreibt, dass ein bestimmter Anteil für den externen Wissenstransfer genutzt werden kann – und muss. Das geschieht auch in der Wissenschaft noch viel zu wenig, dass man also per Förderbescheid festlegt, dass ein Teil dafür genutzt wird, damit das Wissen geteilt und weiter verbreitet wird, damit es angewendet werden kann, stärker in die Breite gelangt und echten Nutzen stiftet. Zum Teil geschieht das via Open Access, sodass die Ergebnisse und Erkenntnisse, die ja in der Regel mit Steuermitteln finanziert sind, auch frei zur Verfügung stehen. Dieses Vorgehen kann noch viel mehr zum Einsatz kommen. Und weil wir das bisher noch nicht gut machen, würde ich mir dafür noch mehr Vorgaben als Verpflichtungen wünschen, damit es besser angewendet wird und Wirkung zeigt und den lernenden Staat fördert. Je mehr ich durch die Lande fahre, desto mehr großartige Beispiele entdecke ich. Doch viel zu häufig bekommen sie nicht genügend Beachtung. Solch einen Ansatz, der zu deutlich mehr Aufmerksamkeit und Austausch führt, wodurch noch mehr gelernt werden kann, der uns insgesamt, nicht nur als lernende Verwaltung, sondern insgesamt als lernende Gesellschaft, sehr helfen würde, den wünsche ich mir.

 

Als finale Abschlussfrage mit Blick in die Zukunft: Wenn ganz vieles von dem, was Du angesprochen hast, real würde, wenn also noch mehr Verwaltungen das Lernen noch besser lernen und konsequent praktizieren, was könnte Gutes geschehen und entstehen?

Eine bessere Gesellschaft.

Lieber André, danke!

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