„Dabei verknüpfen sich in unserem Kopf nochmal ganz andere Dinge” – Interview mit Moreen Heine zur NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen”

In unserer neuen NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen“, die wir bis zum Sommer 2024 fertigstellen, geht es um Lernende Organisationen. Hierfür haben wir u.a. Interviews mit Expert:innen geführt, um durch deren Beobachtungen und Erfahrungen zusätzliche Anregungen für die öffentliche Verwaltung zu bieten. Bevor diese Interviews als Teil der Studie erscheinen, freuen wir uns, mit jeweils einer Kurzversion schon vorab Einblicke in spannende Gespräche geben zu können. Den Anfang hatte Andreas Thürmer von der BSR gemacht.

Heute geht es weiter mit Prof. Dr. Moreen Heine vom Joint Innovation Lab.

Weitere Interviews mit Dr. Robert Gerlit und Dr. André Göbel folgen in Kürze.

Dies ist die Kurzfassung des Interviews. Das Gespräch mit Moreen Heine hat Andreas Steffen am 19. Januar 2024 via Zoom geführt.

Seit 2019 hat Moreen Heine die zu diesem Zeitpunkt neu geschaffene Professur für E-Government und Open Data Ecosystems am Institut für Multimediale und Interaktive Systeme der Universität zu Lübeck inne. Zusätzlich leitet sie das Joint Innovation Lab (JIL) und ist Mitglied im Vorstand des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums (NEGZ).

 

Liebe Moreen, mit Eurem Projekt „Modellamt“ betrachtet Ihr aktuelle Verwaltungsprozesse und deren Optimierungspotenzial mit verschiedenen Formen von Simulation. Dabei gibt es datengetriebene, technische Methoden – und ebenfalls sehr spielerische Verfahren, bei denen Ihr unter anderem mit Lego-Figuren arbeitet. Warum nutzt Ihr diese unterschiedlichen Herangehensweisen?

Diese spielerischen Simulationen könnte man rein digital durchführen, wie eine klassische Prozesssimulation. Aber dann steht man mit anderen Menschen, mit denen man sich ja vielleicht unterhalten und austauschen möchte, vor einem Bildschirm. Dann schauen wir alle auf diesen Monitor – und machen aber nichts anderes. Und ich glaube, dass es schon etwas mit uns macht, wenn wir mit Situationen und Inhalten auch noch Anderes verbinden.

 

Was wäre das?

Etwas Haptisches zum Beispiel, etwas zum Anfassen. Das macht einen Unterschied, beim Ausprobieren und beim Lernen. Das schafft auch einen Moment, an den ich mich später gut erinnere. Weil es vielleicht eine Methode war, die ich noch nicht kannte. Auch etwas wie Lego® Serious Play® ist ja von der Methode her gar nicht so aufregend, das könnte man auch mit Zettel und Stift machen, aber es regt die Menschen anders an, inspiriert sie auf eine andere Weise. Man hat im wahrsten Sinne etwas in der Hand, dabei verknüpfen sich in unserem Kopf nochmal ganz andere Dinge miteinander.

 

Und wie kommt das bei den Teilnehmenden an?

Wir stehen mit diesem Projekt noch am Anfang. Allerdings haben wir bei den ersten bisherigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beobachtet, dass sie es attraktiv finden und sich gerne mit den Inhalten beschäftigen, neue Dinge ausprobieren wollen. Natürlich arbeiten Menschen auch gerne mit Tablets und anderen Geräten, doch gibt es dabei eben auch einen Gewöhnungseffekt. Dann ist plötzlich dieses Haptische, das Anfassbare etwas Besonderes, weil es eben nicht alltäglich ist. Das man wertschätzt, weil sich jemand Zeit genommen hat, etwas zu kreieren.

 

Jetzt könnte man sagen: Hey, wir wollen doch mehr Digitales in die Verwaltung bringen! Und dann kommt Ihr mit analogen Dingen an. Und nachdem wir uns doch alle an Videokonferenzen gewöhnt haben, soll man bei Euch wieder im selben Raum arbeiten. Ist dies ein Schritt zurück – oder braucht es beides?

Ich glaube, beides hat Sinn und Zweck. Wenn ich wirklich simulieren will, wie ein Prozess funktioniert, und ich mache das mit Expertinnen und Experten, dann geht das rein digital wunderbar. Wenn ich allerdings etwas vermitteln und erreichen will, dass sich die Menschen wieder physisch treffen, dann braucht es andere Wege und Methoden. Und diese Präsenz bringt ja meist auch ein anderes Erleben mit sich. Daraus können dann weitere Vorteile und Erkenntnisse entstehen.

 

Zum Beispiel?

Um beispielsweise eine andere Zugänglichkeit zu schaffen, gemeinsame Diskussionen anzuregen. Ein Modell schafft allein dadurch Gesprächsstoff, dass es immer unzulänglich ist. Es bildet die Realität verkürzt ab. Durch die gemeinsame Betrachtung vor Ort können sehr leicht Gespräche über Besonderheiten des Modells entstehen und angeregt werden. Das kann man bei der Modellgestaltung auch gezielt fördern.

 

Menschen sind ja bekanntermaßen recht unterschiedlich. Manche sind sehr kopf- oder zahlenlastig, andere wiederum arbeiten besser oder lieber mit Bildern oder haptischen Dingen. Habt Ihr auch schon absoluten Widerwillen erlebt?

Beim „Modellamt“ hatten wir bisher ja noch nicht sehr viele Durchläufe. Wenn ich das jedoch mit anderen Erfahrungen vergleiche, mit Workshops, die auch spielerische Elemente enthalten, dann gibt es solche Menschen, die diesen Ansatz komplett ablehnen, andere, die das zumindest „durchhalten“, und wieder solche, die es sehr begrüßen. Diese Unterschiede wird es wohl auch immer geben.

 

Da Du Dich neben Wissenschaft und Verwaltung ja auch noch in anderen „Ökosystemen“ bewegst und womöglich ganz andere Erfahrungen machst, also als Professorin – und eben auch als Mutter: Solch ein spielerisches Vorgehen von Gamification muss im beruflichen Kontext manchmal mit dem Vorurteil kämpfen, dass da gar kein ernsthaftes Arbeiten sei, sondern kindlich oder sogar kindisch. Wenn Du auf Deine Kinder schaust, wenn sie spielen, siehst Du bestimmte ganz ähnliche oder komplett unterschiedliche Effekte in diesen verschiedenen Kontexten und Systemen?

Gerade wenn die Kinder älter sind, spielen sie viel allein, häufig auch mit digitalen Dingen. Dann also allein oder zumindest auf Distanz. Ich glaube, dass es einen riesigen Unterschied dazu macht, ob man in Präsenz miteinander spielt, also beispielsweise ein klassisches Brettspiel. Oder wenn man zwar digital spielt, aber dabei in Präsenz direkt nebeneinander auf der Couch sitzt. Die Interaktion ist eine andere als bei einem rein digitalen Spiel. Die soziale Situation beim echten, physischen Miteinander ist so wertvoll. Kinder erinnern sich sehr gut an einen bestimmten Spieleabend „damals, zusammen mit dem und dem“, aber sie erinnern sich weniger gut an die hunderttausendste Allein-Spiel-Session. Jedenfalls ist das meine Beobachtung.

In Deiner Arbeit hast Du Dich unter anderem mit Visualisierung von Gesetzesentwürfen und Gesetzestexten für mehr Beteiligung und bessere Rechtsetzung beschäftigt, auch mit Virtual und Augmented Reality für die Weiterbildung von Verwaltungsmitarbeitenden in Krisenstäben. Was kann man neben den haptischen Elementen auch von diesen visuellen Aspekten für das Lernen nutzen? Welche Rolle spielt es, sich ganz bildlich etwas vorzustellen?

Es kann einen großen Unterschied in manchen Bereichen machen, wenn man wirklich auch über die Augen eine genaue Vorstellung hat, nicht nur einen beschreibenden Text. Dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt, kennen wir ja alle. Das hilft auch, um sich in bestimmte Situationen hineinzuversetzen. Bestimmte Anwendungen von Augmented Reality können übers Visuelle in Lern- und Weiterbildungssituationen hilfreiche Hinweise geben. Wir haben es beispielsweise im Kontext des Katastrophenschutzes erlebt, wie sehr die Teilnehmenden gelobt haben, dass man sich mit solchen Anwendungen noch viel besser ins echte Geschehen hineinversetzen kann, als wenn das rein am Schreibtisch ohne solche Assistenzsysteme abläuft. Man sieht dabei, wie ein Damm bricht oder wie das Wasser fließt. So etwas macht das Erfahren und auch Lernen wesentlich realer und wirksamer.

Von diesen sehr konkreten Beispielen nochmal wieder ganz zurück auf die Metaebene: Was geht Dir – ganz allgemein oder sehr konkret – durch den Kopf, wenn Du an die öffentliche Verwaltung denkst und dabei das Stichwort „Lernende Organisation“ hörst?

Da denke ich sofort an das Thema „Organisationale Ambidextrie“. Es gibt also Bereiche, in denen man bereits vorhandenes Wissen, definierte Prozesse anzuwenden und korrekt auszuführen hat. Und dann wiederum Bereiche zur Entwicklung der Organisation, in denen man bisher wenig oder gar nichts weiß, in denen man permanent Neuland betritt, mit Ungewissheit oder Unsicherheit umgehen können muss.

 

Was heißt das bezogen auf die Verwaltungswelt?

So viele Menschen dort befinden sich ständig im Hamsterrad. Es gibt immer mehr zu tun und gleichzeitig immer weniger Menschen, die das erledigen können. Und demgegenüber stellt sich mir die Frage, ob es überhaupt Raum zum Lernen gibt. Könnte man also einen Pauschalvorwurf machen à la „Die Verwaltungen sind nicht in der Lage zu lernen.“ Und nein, das kann man nicht. Das wäre extrem unfair. Aber diese Balance der Ambidextrie zu erreichen, auch die erforderliche Klarheit, das gelingt noch nicht so gut. Das ist wohl in allen Arten von Organisationen anspruchsvoll, in der Verwaltung jedoch ganz besonders schwierig. Und deswegen denke ich durch Deine Frage an diesen Raum, den es oft nicht gibt, um in Ruhe zu lernen, Dinge auszuprobieren und ausreichend darüber reflektieren zu können, was genau sie da eigentlich tun, wie sie sich vielleicht weiterentwickeln könnten.

Bis auf wenige Ausnahmen sind die Behörden und Ämter der deutschen Verwaltung ja nicht per se klassische Weiterbildungseinrichtungen. Gleichzeitig sollen das auch gar keine hyperagilen Start-ups sein, die jeden Tag neue Produkte oder innovative Geschäftsmodelle entwickeln. Ganz bewusst fast schon naiv gefragt: Warum sollte die öffentliche Verwaltung überhaupt lernen?

In meiner Promotionszeit war ich an der Universität Potsdam bei Prof. Dr. Norbert Gronau, der sich als Wirtschaftsinformatiker unter anderem mit Wandlungsfähigkeit in Fabriken befasst. Jede Organisation ist sogenannten „Umweltturbulenzen“ ausgesetzt.

 

Damit sind keine Wirbelstürme oder Flutwellen gemeint, richtig?

Genau. Damit ist gemeint, dass sich die Umwelt, also das Umfeld der Organisation, verändert, teilweise massiv und radikal. Und deswegen muss auch ich mich als Organisation verändern. Um allein schon diesen Veränderungsbedarf wahrzunehmen, muss ich lernen. Dann muss ich – auch wieder mittels Lernens – in der Lage sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und danach muss ich es auch noch umsetzen. Für alle drei Schritte ist Lernbereitschaft, auch Lernfähigkeit, erforderlich.

Um nichts mit falscher, weltfremder rosaroter Brille zu betrachten, aber trotzdem positiv nach vorn in die Zukunft zu schauen: Wir waren schon bei sogenannten Experimentierräumen, in denen man ausprobieren, auch Fehler machen und scheitern darf, um daraus zu lernen. Und manchmal macht das Lernen ja auch umso mehr Spaß, wenn man weiß, wofür das Gelernte gut sein kann. Was würdest Du Dir – frei von realistischer Machbarkeit, Budgets und anderen Dingen – auf den verschiedenen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen wünschen, damit das Lernen dort noch besser funktionieren könnte?

Bei uns an der Uni überlegen wir gerade viel, ob klassische Lehre mit herkömmlichen Vorlesungen noch funktioniert, heutzutage noch eine Berechtigung hat. Müssen wir nicht ganz anders lernen als bisher, Wissen ganz anders vermitteln? Sollten wir nicht viel praxisbezogener, greifbarer in Projekten arbeiten und lernen? Und ich glaube, im öffentlichen Sektor sollte eben noch viel mehr in Projekten gearbeitet werden, weil man darüber möglichst klar definierte Zielstellungen und Aufgaben hat. Und daraus erwächst dann der konkrete Lernbedarf. Wenn ich, wirklich im Wunschmodus, die Chance hätte, mir genügend Personalressourcen zusammenzusuchen, dass ich also Menschen aus den Fachbereichen abziehen und in eigene Veränderungsprojekte bringen kann, ohne dass ich als Externe extrem eingreifen muss, sondern dass sie möglichst viel selbst gestalten können, auch sagen können, was sie brauchen, und dann lernen können, es letztlich selber vorantreiben … das wäre wohl mein Wunschkonzert! (lacht)

 

Dann hoffen wir, dass sich dieser Wunsch bald erfüllt. Vielen Dank für Deine Anregungen und Antworten!

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