„Wer nichts mehr lernen kann, ist nicht perfekt, sondern tot” – Interview mit Andreas Thürmer zur NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen”

Für unsere neue NEGZ-Studie „Kaizen für Kommunen“, bei der es um Grundlagen und Impulse zum Thema Lernende Organisation geht und die wir bis zum Sommer 2024 fertigstellen, haben wir u.a. Interviews mit Expert:innen geführt, um weitere Perspektiven und Anregungen zum Lernen und zur Stärkung der Lernfähigkeit für die öffentliche Verwaltung zu finden.

Bevor diese Interviews als Teil der Studie erscheinen, freuen wir uns, mit jeweils einer Kurzversion schon vorab Einblicke in spannende Gespräche geben zu können.

Heute starten wir mit Andreas Thürmer von der Berliner Stadtreinigung.

Weitere Interviews mit Prof. Dr. Moreen Heine, Dr. Robert Gerlit und Dr. André Göbel folgen hier in Kürze.

Dies ist die Kurzfassung des Interviews. Das Gespräch mit Andreas Thürmer hat Andreas Steffen am 22. Januar 2024 in den Räumen der BSR-Hauptverwaltung in Berlin-Tempelhof geführt.

Als Leiter Organisation, Projekte, Digitale Innovation und New Work ist Andreas Thürmer innerhalb der Berliner Stadtreinigung (BSR) verantwortlich für mehr als 60 Beschäftigte mit einer Budgetverantwortung von rund 10 Millionen Euro. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Weiterentwicklung der BSR und in diesem Zusammenhang auch mit dem organisationalen Lernen. Die BSR ist europaweit eines der führenden und größten Dienstleistungsunternehmen in ihrer Branche mit rund 6.200 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von rund 670 Millionen Euro. Ihre Kernaufgaben sind die Gestaltung ganzheitlicher Stadtsauberkeit und nachhaltiger Abfall- und Ressourcenwirtschaft in der wachsenden Metropole Berlin.

 

Hallo Herr Thürmer, Entwicklung und damit auch Lernen sind ja meist kein Selbstzweck, sondern dienen möglichst dem Erreichen von konkreten Zielen. Wie schafft es die BSR als Unternehmen mit der Größe einer kleinen Kommune, sich konsequent zu verbessern – und warum?

Die BSR hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Nach der Wiedervereinigung erfolgte zunächst die Zusammenführung der beiden Stadtreinigungen Ost und West und im weiteren Verlauf die Umwandlung in eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Um das Jahr 2000 herum stand die BSR wie viele andere öffentliche Unternehmen in Berlin vor der Privatisierung aufgrund der klammen Haushaltslage. Der damalige Vorstand und die Personalvertretung haben dies in einem gemeinsamen Kraftakt verhindert und die BSR als öffentliches Unternehmen langfristig erhalten. Damals war es mit einem Horizont von ungefähr 15 Jahren unser Ziel, dass wir als öffentliches Unternehmen unseren Leistungsauftrag sicherstellen. Dazu wurde ein entsprechender Unternehmensvertrag mit dem Eigentümer, dem Land Berlin, abgeschlossen. Der „Preis“ dafür war unter anderem die Umsetzung eines tiefgreifenden, umfangreichen Effizienzsteigerungsprogrammes, bei dem circa ein Drittel der Beschäftigten sozial verträglich abgebaut wurden zum Beispiel durch Vorruhestandsregelungen. Und gleichzeitig wurden Prozesse und Strukturen nachhaltig verändert, teils auch durch Kooperationen und Outsourcing. Die Notwendigkeit und auch Bereitschaft zur Verbesserung begleitet die BSR deshalb schon seit vielen Jahren und ist damit auch Teil unseres Selbstverständnisses geworden.

 

Das ursprüngliche Ziel des Selbsterhalts ist längst erreicht. Wie schaut es heute aus?

Im Lauf der Zeit haben wir unsere Vision angepasst, dabei auch mit einem selbstbewussten Anspruch unterlegt. Obwohl wir inzwischen als kommunales Vorzeigeunternehmen gelten, geht unsere Entwicklung konsequent weiter. Heute geht es nicht mehr um den Erhalt der BSR, sondern um die Untermauerung unseres eigenen Anspruchs, eine Vorreiterrolle in unserer Branche einzunehmen und diese weiter auszubauen. Heute ist es unser Zielbild, dass wir mit unseren Funktionen, also für Stadtsauberkeit zu sorgen und Berlin auf dem Weg zur „Zero-Waste-Stadt“ zu unterstützen, einen echten Gestaltungsanspruch erfüllen. Wir möchten an der Spitze dieser Bewegung stehen. Das treibt uns heute an.

 

Bei Kaizen geht es ja unter anderem um sinnvolle Nutzung von Ressourcen. Dazu gehört auch das sogenannte 5S-Prinzip (siehe Abbildung 1 unten), bei dem das Saubermachen ein wichtiger Aspekt ist. Was könnte nach Ihrer spontanen und gerne rein subjektiven Meinung die öffentliche Verwaltung von den Saubermacher:innen der BSR lernen?

Es ist aus meiner Sicht schwierig oder gar vermessen, anderen Institutionen Ratschläge zu erteilen, ohne die spezifische Situation zu kennen. Voraussetzung für erfolgreiche Verbesserungen sind jedoch in jedem Fall sowohl der Wille als auch die Notwendigkeit zur Veränderung. Meist bedarf es dafür eines gewissen Leidensdrucks, wie er bei der BSR damals vorhanden war. Methoden, wie das beim 5S-Prinzip genutzte „Saubermachen” und Aufräumen sind für die Umsetzung sehr sinnvoll. Auch die BSR hat in diesem Prozess aufgeräumt und jede Menge Ballast abgeworfen. Sonst wäre die erwähnte Entwicklung ja auch gar nicht möglich gewesen.

 

Anknüpfend ans Aufräumen und Saubermachen: Das Image der BSR ist für einen Betrieb, der platt formuliert „mit Müll zu tun hat”, beeindruckend gut. Hängt das auch mit dem internen Lernen zusammen? Wenn ja, wie?

Natürlich hat das in erster Linie damit zu tun, welche großartige Leistung unsere Beschäftigten jeden Tag zuverlässig erbringen. Eine qualitativ hochwertige, zuverlässige Leistungserbringung ist die Basis für ein gutes Image. Unsere Beschäftigten sind dafür die wichtigsten Botschafter. Es ist natürlich auch ein Ergebnis kontinuierlicher Weiterentwicklung. Es gab Zeiten, in denen die BSR als ineffizient und teuer galt. Das ist heute nicht mehr so. Die Gebühren für unsere Leistungen gehören zu den niedrigsten aller deutschen Großstädte, und unsere Leistungen erbringen wir in hoher Qualität und zuverlässig, den Anforderungen der sich stark verändernden Stadt angemessen, übrigens auch während Corona- oder der Energiekrise in Folge des Ukraine-Kriegs. Die klassische Abfallwirtschaft wandelt sich zur Kreislaufwirtschaft, und Stadtsauberkeit wird zunehmend zu einem wichtigen Faktor für eine lebenswerte Stadt. Unsere Vision ist, dass wir gemeinsam Berlin besser, grüner und sauberer machen. Dabei sehen wir uns in verantwortlicher Rolle als Partnerin des Landes. Last but not least haben wir Anfang der 2000er Jahre unsere weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte und geschätzte Imagekampagne „We kehr for you” an den Start gebracht. Dieser typische Berliner Humor prägt unsere Kommunikation bis heute. Nach dem Motto „Tue Gutes und rede darüber” – aber bitte in dieser richtigen Reihenfolge. Wenn die Leistung nicht stimmt, kann auch die beste Kampagne nichts helfen.

Ein weiteres Kaizen-Prinzip schaut auf drei M, die es zu vermeiden gilt (siehe Abbildung 2 unten). Mudra ist japanisch und bedeutet Verschwendung, Mura steht für Unausgeglichenheit und Muri für Überlastung. Was tut die BSR, um keine „Humanressourcen” unnötig zu verschwenden, um die Kapazitäten der Mitarbeitenden angemessen auszulasten und eine Überlastung der Menschen zu vermeiden?

Das ist ein wichtiges Thema, insbesondere in Zeiten größerer Veränderungen. Eine Vielzahl von anspruchsvollen Projekten prägt auch heute die Weiterentwicklung der BSR, und da ist die Gefahr der Überlastung der Beschäftigten sehr groß. Denn diese Projektaufgaben müssen doch meistens zusätzlich, also neben dem Tagesgeschäft bewältigt werden.

 

Was machen Sie konkret? 

Drei Dinge sind dabei für uns wichtig. Erstens: Wir brauchen die Transparenz darüber, wer mit welchen Projekten und Themen mit welcher Kapazität gebunden ist, sonst werden die immer gleichen Personen mit immer weiteren Themen belastet. Zweitens: Die richtigen Dinge tun. Drittens: Die Dinge richtig tun. Zu Punkt eins und zwei haben wir vor circa zwei Jahren mit der Einführung eines Portfoliomanagements begonnen, mit dem die Landschaft der wichtigsten Projekte der BSR gesteuert wird. Heute haben wir dadurch eine deutlich höhere Transparenz, was den Ressourceneinsatz angeht, und können die Engpassressourcen sehr viel klarer erkennen und managen. Und wir haben ein Bewertungsraster etabliert, in dem wir die wichtigen Themen und Projekte aus Unternehmenssicht bewerten und priorisieren können und die Belastung dadurch besser managen können. Zu Punkt drei investieren wir in die Professionalisierung unseres Projektmanagements, damit wir neue Projekte nach einem einheitlichen Standard abwickeln können und nicht jedes Projekt wie in einer Manufaktur sozusagen „von Hand “ als Einzelstück konzipiert werden muss. Wir nutzen hierfür den weit verbreiteten Standard PRINCE2, verstärkt aber auch Elemente aus der agilen Welt. Diese Prozesse unterliegen ebenfalls dem Gedanken des stetigen Lernens. Und manchmal gehört auch eine Portion Loslassen und Mut dazu, die Dinge anders zu machen als früher.

Und von hier aus nochmal zurück zum Vermeiden von Verschwendung: „Zero Waste“ ist ein Ziel, das die Arbeit der BSR als Vision leitet und unterstützt. Haben Sie als Bürger eine Idee, was dies übertragen auf die öffentliche Verwaltung bedeuten könnte?

Dieses „Zero Waste“ kann ja wörtlich gesehen die Bedeutung von „Null Verschwendung” haben, was auch unserem BSR-Verständnis entspricht, Abfall als Ressource zu betrachten. In einer Statistik habe ich mal gelesen, dass circa 80 Prozent aller Verwaltungsvorgänge rein intern zwischen den Abteilungen ablaufen und gar nicht nach außen an die jeweiligen Kund:innen gerichtet sind. Ob diese Zahl stimmt, das weiß ich nicht. Vermutlich ist das provokativ, aber da ich auch öfter mit öffentlichen Verwaltungsvorgängen zu tun habe, kann ich bestätigen, dass bei den Dokumenten von dort immer die höchste Anzahl an Mitzeichnungen zu sehen sind. Hier könnte man sicher ansetzen und nach Potenzial für Entbürokratisierung suchen. Ansonsten bietet die Digitalisierung natürlich große Potenziale, die Papierverschwendung radikal zu reduzieren, gerade in der öffentlichen Verwaltung. Zumindest ist das von außen betrachtet mein Eindruck.

 

Was waren aus Ihrer ganz persönlichen Sicht wichtige Lerneffekte der BSR-Organisation in den letzten Jahren, von denen heute die Mitarbeitenden und im Endeffekt vielleicht sogar auch die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt profitieren?

Ganz persönlich sind das für mich wieder drei Dinge. Erstens: Jede Veränderung fängt mit dem ersten Schritt an. Ein klares Ziel zur Veränderungsnotwendigkeit, hinter dem sich die Beschäftigten versammeln und daran orientieren können, ist wichtig, damit man sich gemeinsam auf den Weg machen kann. Am Anfang ist der zu bewältigende „Berg” meistens hoch und unüberschaubar. Aber über kontinuierliche Verbesserung und oft auch in kleinen Schritten kommt man dem Ziel dann doch näher. Fehler sind erlaubt und wichtig, um daraus zu lernen und die nächsten Schritte zu planen. Das prägt bis heute unsere Arbeit an der Weiterentwicklung. Zweitens: Nur gemeinsam können wir erfolgreich sein. Die großen Veränderungen der BSR, die ich erlebt habe, waren alle das Werk von bereichsübergreifender Zusammenarbeit. Nur wenn wir die – oftmals berechtigten – Bereichsinteressen zurückstellen und das gemeinsame Unternehmensinteresse in den Vordergrund bringen, gelingen uns auch komplexe Veränderungen. Drittens: Die Leistung an den Kund:innen in den Mittelpunkt stellen. Gerade für uns als öffentliches Unternehmen mit einem weitgehend gesetzlichen Auftrag ist das nicht selbstverständlich. Es ist jedoch das zentrale Element zur Weiterentwicklung unserer Leistungen.

Hat die BSR „bestimmte Tricks”, wie die Lernbereitschaft sowohl der einzelnen Menschen, der verschiedenen Bereiche als auch der Organisation als Ganzes gut funktioniert? 

Dafür braucht es in der Regel keine Tricks. Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen im Unternehmen das Lernen wollen und auch die neuen Beschäftigten, die wir dazu bekommen, genau das einfordern. Es braucht jedoch die Gelegenheit – und das schaffen wir durch ein umfassendes Fortbildungsprogramm, aus dem sich die Beschäftigten das für sie Passende gemeinsam mit ihren Führungskräften aussuchen können. Wir fördern die Arbeit in Projekten, weil hier auch die Zusammenarbeit in einem anderen Kontext geprobt werden kann, und wir fördern den bereichsübergreifenden Austausch durch Hospitation in einem anderen Bereich oder vergleichbare Angebote. Es ist wichtig, das Unternehmen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, um Verständnis für die Arbeit der anderen zu entwickeln. Manchmal helfen natürlich auch Einflüsse von außen. Gerade die Corona-Pandemie hat bei uns einen richtigen Push in Richtung New Work und digitalem Arbeiten gegeben, der ohne das nie so schnell möglich gewesen wäre.

 

Falls es so etwas gibt – und Sie es verraten wollen: Gibt es Dinge, die die BSR noch lernen könnte?

Ich glaube, eine Person, die nichts mehr lernen kann, ist nicht perfekt, sondern tot. Das gilt natürlich auch für Unternehmen und damit ebenso für die BSR. Gerade die Digitalisierung stellt uns vor ganz neue Herausforderungen, bringt gleichzeitig viele Chancen mit sich. Das ist für uns noch ein großes Lernfeld. Die Veränderung unseres Geschäfts bringt auch neue Player mit ganz anderen Ansätzen mit sich, die unser Geschäft weiter herausfordern. Hier müssen wir den Blick über den Tellerrand wagen und auch mal mit anderen kooperieren. Die Stadt und unsere Kund:innenbedarfe verändern sich ständig. Daher ist es wichtig für uns zu verstehen, wie wir in diesem sich wandelnden Umfeld agieren müssen. Der demografische Wandel ist auch für uns und insbesondere für die überall gesuchten Funktionen wie IT und Ingenieurdienstleistungen eine große Herausforderung. Die Beschäftigten haben andere Bedürfnisse als in der Vergangenheit. Umso wichtiger ist es für uns, dies zu verstehen und uns weiter zu verändern, damit wir weiterhin eine attraktive Arbeitgeberin bleiben. Das sind nur einige Beispiele, sie zeigen aber, dass das Lernen nie aufhört. Zum Glück, wenn Sie mich fragen!

Nochmal wieder zurück aus der BSR und hinein in die Amtsstube: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die öffentliche Verwaltung denken und dabei das Stichwort „Lernende Organisation“ hören? 

Ganz spontan sind das zwei Wortpaare, die derzeit noch weit entfernt voneinander zu sein scheinen. Das ist aber in einem öffentlichen Unternehmen von außen betrachtet nicht großartig anders. Es ist aus meiner Sicht wichtig, sich auf den Weg zu machen, wie ich das in unserem Fall beschrieben habe. Und natürlich kann man die öffentliche Verwaltung nicht über einen Kamm scheren. Es gibt sicher auch viele gute Beispiele aus der öffentlichen Verwaltung, von denen wiederum andere Verwaltungen profitieren können. Darüber müsste allerdings wohl noch viel mehr gesprochen werden.

 

Gibt es etwas, was Sie sich als Bürger und Steuerzahler von der Verwaltung wünschen würden, das es heute noch nicht gibt, das es zukünftig „durch Lernen” geben könnte?

Als Berliner wünsche ich mir einen Termin für eine Passverlängerung ohne endlose Wartezeiten! Nicht ganz ernst gemeint. (lacht) Einen deutlichen Sprung in Richtung Digitalisierung würde ich sagen. Andere Volkswirtschaften wie zum Beispiel die baltischen Staaten sind uns da, wie man so liest, momentan weit voraus. Ich wünsche mir, dass hier noch mehr grenzübergreifendes Lernen möglich ist.

 

Herzlichen Dank für diese Einblicke und Lernmöglichkeiten aus der Welt des Saubermachens und Aufräumens!

 

Weiterführende Informationen:

Abbildung 1: Das 5S-Prinzip des Kaizens; Originalquelle: „Menschen und Organisationen im Wandel“ (Steffen, A., 2019, Springer)

Abbildung 2: Die drei M im Kaizen; Originalquelle: „Menschen und Organisationen im Wandel“ (Steffen, A., 2019, Springer)