47: Samurais und Sekunden
Ein wilder Gedankensprung von herrenlosen japanischen Rittern über die heutige Aufmerksamkeitsspanne beim Lesen bis zu ominösen Dingen wie echter Achtsamkeit im Alltag und Mindful Leadership
von Andreas Steffen
47 Rōnin
So lautet der Titel eines Spielfilms mit Keanu Reeves aus dem Jahr 2013. Beruhend auf einer alten Legende geht es darin um ebenso viele sogenannte Rōnin. Das sind herrenlose Samurais, also die früheren Ritter im mittelalterlich-feudalen Japan, die ihrem patriarchalen Herrn damals vollumfänglich ergeben waren. Blöd wurde es nur, wenn dieser Herrscher (Shogun war beispielsweise damals ein sehr beliebter Titel) aus gewissen Gründen nicht mehr präsent war. Altersbedingtes Ableben, anderweitig herbeigeführter Tod, politischer Amtsverlust aufgrund von Fehlverhalten, wegen Korruption und vergleichbarer Umstände oder auch fiese Intrigen (vermutlich stets Ansichtssache) waren solche Auslöser.
Dann wurden, ohne Aufhebungsvertrag, Änderungskündigung oder ähnliche administrative Schritte, aus den stolzen Rittersleuten von jetzt auf gleich Rōnin: herrenlos und verstoßen. Diese Menschen waren also fürderhin führungslos, hatten keinen beruflichen Anker mehr, waren arbeitslos und wurden leider auch als ehrlos angesehen, wobei sie die Auftragslosigkeit, Blamage oder Entehrung oft gar nicht selbst verantwortet hatten. Pech gehabt – mitgefangen, mitgehangen, den falschen Arbeitgeber ausgesucht.
Die Ehre wiederherstellen?
Häufig führte dieser Statusverlust bei den Ex-Samurais dann zu etwas, das sich fälschlicherweise mit Harakiri (zum Glück nur als Bezeichnung, nicht als Tat) „etabliert“ hat und eigentlich Seppuku heißt: Selbstmord mit dem eigenen Kurzschwert galt damals als weitaus ehrenvoller als die Schande, führungslos zu sein. Mit dieser Art des ritualisierten Suizids konnte ein Rōnin, der nicht ganz fix einen neuen Boss gefunden hatte, die eigene und auch die Ehre seiner Familie wiederherstellen. Ja, andere Länder, andere Zeiten, andere und sehr seltsame Sitten. Das ist zum Glück heute und hierzulande anders.
Achtung: Aufmerksamkeit?
Die 47 sollte ursprünglich lediglich als Zahl die Überleitung zu einem komplett andersartigen Thema sein: zur Aufmerksamkeitsspanne beim Lesen. Doch beim Schreiben poppten weitere Querverbindungen auf, dazu später mehr.
Szenenwechsel: Im SZ-Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien am 24. November 2024 ein Artikel, der meinen Ehrgeiz bereits mit dem Titel herausforderte. In „Wetten, Sie können dieses Interview nicht auf einmal durchlesen?“ erklärt die Psychologin und Informatikerin Gloria Mark, dass die meisten Menschen heutzutage nicht in der Lage sind, sich länger als die bereits genannte Anzahl von Sekunden auf denselben Text zu konzentrieren. 47 Sekunden – mehr geht bei vielen einfach nicht.
Gloria Mark hatte über zwei Jahrzehnte an der University of California zum Einfluss digitaler Medien auf das menschliche Leben und Verhalten geforscht. Im unten verlinkten Interview beschreibt sie, welchen Einfluss unsere ach-so-geliebten Smartphones, mit denen viele Leute mindestens mental bereits als Cyborgs verwachsen zu sein scheinen, auf unser Konzentrationsvermögen haben.
Wer bis hierher gelesen hat, ist damit also schon eine bemerkenswerte Ausnahme.
Wie „gut“ wir uns ablenken lassen
Doch sind es bei weitem nicht nur unsere smart-mobilen Endgeräte, die wir nur noch selten aus der Hand legen. Auch anderweitige Aspekte wie – zumindest aus Anbietersicht – clevere Algorithmen und „digitaler Gruppenzwang“ beeinflussen uns massiv. Seit dem Erscheinen von iPhone & Co. vor lediglich 17 Jahren (echt jetzt, die Dinger gab es nicht schon immer) hat sich die in den Experimenten von Gloria Marks Teams durchschnittlich gemessene Aufmerksamkeitsspanne von zweieinhalb Minuten auf die eingangs genannte Zahl an Sekunden reduziert: von 150 auf 47.
Die mittlerweile emeritierte Professorin Mark spricht darüber hinaus auch vom „sozialen Kapital“: Wenn uns jemand Gutes tut, entsteht in den meisten humanoiden Wesen der Impuls, dies „zurückzuzahlen“. (Das gibt es auch bei weniger guten Dingen, doch darum geht’s hier gerade nicht.) Damit kann eine E-Mail gemeint sein, die wir erhalten – fast egal, was drin steht: Oft wollen wir dann sofort antworten. Oder noch subtiler: ein blauer Daumen! Ein Like! Und schon sind wir tief eingetaucht in die Spielregeln sogenannter sozialer Medien, die uns und unser sozial-digitales Kapital verwalten und steuern wie Investment Banker auf Speed.
47 Sekunden … kein Wunder, dass unser Kommunikationsverhalten und auch anderweitige Aspekte unseres Alltagslebens davon beeinflusst werden. Schon vor knapp 20 Jahren durfte ich in einer speziellen Branche einen massiven „Change of Communication“ beobachten. Damals hatte ich beruflich viel mit Menschen aus Immobilienunternehmen zu tun. Einige von ihnen hatten US-amerikanische Investoren, die den hiesigen Mitarbeitenden neue Arbeitsgeräte zur Zwangsverfügung stellten: Wer erinnert sich noch an Blackberrys? Genau diese hübschen Spielzeuge führten beispielsweise dazu, dass man jemandem eine längere E-Mail schrieb, am Ende fragte, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit man dazu miteinander sprechen wolle – und als Antwort ein „Ja“ erhielt.
Vormals ausführliche (schriftliche) Kommunikation wurde Schritt für Schritt auf Umfänge reduziert wie in der Zeit, als X noch Twitter hieß. Ob man in 140 Zeichen wichtige Inhalte packen kann? Manche Menschen (hallo Donald, hallo Elon) würden dies wohl klar bejahen. Ob damit fundierte Informationen transportiert werden können? Das bleibt als möglicherweise rhetorische Frage hier so stehen.
Ein böses Beispiel aus dem Alltag auf der Straße
Um es mal anschaulich und echt unschön zu machen: Wozu reduzierte Aufmerksamkeit und mangelhafte Achtsamkeit führen können, musste ich im Jahr 2018 erleben. In Berlin saß ich im Auto vor der roten Ampel an einer Kreuzung. Aus dem Augenwinkel sah ich eine junge Fußgängerin, die über die Straße ging und dabei auf ihr Handy schaute. Ich blickte wieder weg – und plötzlich wieder hin, noch kurz bevor ich quietschende Reifen und entsetzte Schreie hörte.
Wahrscheinlich im doppelten Unaufmerksamkeitsmodus waren die bereits erwähnte Fußgängerin und ein LKW kollidiert. Ein Teil von mir, der sich wohl aus Selbstschutz bald darauf ausblendete, hatte direkt gesehen, wie der Lastkraftwagen über den Kopf der jungen Frau rollte. Das muss man sich jetzt bitte nicht selbst visuell vorstellen, die realen Bilder sind zum Glück auch mir selbst nicht mehr präsent – doch das Thema, was passieren kann, wenn man nicht achtsam ist, ist hängen geblieben.
Im Treppenhaus
Zum Glück sind die Auswirkungen reduzierter Aufmerksamkeit nur selten so dramatisch wie in diesem schlimmen Beispiel. Mangelhafte Achtsamkeit für die Dinge um sich herum und auch mitten in sich selbst muss bei weitem nicht zu Unfällen mit Todesfolge oder dem oben genannten Seppuku führen.
Doch dass Menschen allerorts und aller Art in der heutigen Zeit teils massiv überfordert sind, lässt sich an mannigfaltigen Symptomen ablesen. Sowohl hier im Büro als auch daheim habe ich interessanterweise jeweils eine Neurologie-Praxis als Nachbarn. Teilweise stehen die Menschen alias Patient:innen im Treppenhaus Schlange, um behandelt zu werden. Mein Kollege Max Happel wird das als Neurowissenschaftler bestätigen. Meine Kollegin Lea Mersch wiederum kann (aus der Praxis als Therapeutin) bestätigen, dass Behandlungstermine im psychotherapeutischen Bereich spätestens seit Coronazeiten absolute Mangelware sind, weil alles ausgebucht ist.
Schon vor mehr als fünf Jahren „durfte“ ich im Rahmen einer Ausbildung zu „Mindfulness-based Stress Reduction“ (MBSR) erleben, wie sehr manche Menschen aus allerlei Gründen den Bezug zu sich selbst verloren haben. Einige dieser Personen erschienen, als hätte eine neuzeitliche Guillotine sie unterhalb des Kopfes vom Rest ihres Körpers abgetrennt: Viele konnten überhaupt nicht mehr fühlen, was sie fühlten. Als wäre der Verstand abgeschnitten vom Rest, manövrierten sie wie ferngesteuerte, emotionslose Roboter durchs eigene Leben.
Wieder zurück zum Anfang
Manche dieser Menschen waren Führungskräfte. Ob Fürst, Shogun, Samurai, Ritter oder Rōnin ist wohl wurscht. Auch heute nach dieser MBSR-Ausbildung erlebe ich oft, wie Menschen, die sich selbst oder andere führen wollen, dafür gar nicht mehr die volle Aufmerksamkeit aufbringen. Die allein in Bezug auf sich selbst schon seit viel zu langer Zeit im dunkelroten Bereich agieren, die also längst nicht mehr in der Lage sind mitzubekommen, wenn ihr inneres Ampelsystem von grün auf gelb umschwenkt und sie eine echte Pause einlegen sollten.
„Achtsamkeit“ ist als Marketingbegriff leider von unseriösen Influencern und anderen Menschen, die damit vor allem Geld verdienen wollen, fast vollständig verbraucht und verbrannt. Mit „Mindfulness“ lockt man vielleicht noch durch heilversprechende Ratgeber, hübsche Apps & Co. einige Leute hinter dem unachtsamen inneren Ofen hervor.
Etwas wie „Mindful Leadership“ traue ich mich als Thema kaum an- und auszusprechen, weil soviel Schindluder damit getrieben wurde. Und dennoch sind diese Thematik und deren Auswirkungen so verdammt wichtig.
Wer andere Menschen führen, anführen, anleiten und sie auf ihrem Weg begleiten will, sollte in der Lage sein, sie bestmöglich und aufmerksam wahrzunehmen. Ihre individuellen Bedarfe, ihre speziellen Fähigkeiten wollen erkannt, verstanden und berücksichtigt werden.
Bei sich selbst anfangen
Dafür ist es entscheidend, dass man dies auch zunächst schon bei und für sich selbst tut. „Führung fängt mit Selbstführung an“ ist ein Satz, den man gebetsmühlenartig wieder und wieder hervorholen kann – und muss.
So häufig sind Führungskräfte zu erleben, die von einem Meeting in den nächsten Online-Call hetzen, die zwischendurch vielleicht noch fix aufs Klo springen und dann dort im Sitzen siebzehn Mails beantworten, während sie parallel versuchen, das aktuelle Projekt mental auf Vordermann zu bringen, um die Deadline einzuhalten.
47 Sekunden: So lange könnte man stattdessen einfach innehalten. Nichts tun, nur atmen. Für einen Moment ganz bei sich sein. Vielleicht schaffen mehr und mehr Menschen es auch, solche eine Aufmerksamkeitsspanne für sich selbst auf die früheren 150 Sekunden auszudehnen. Zweieinhalb Minuten am Stück komplett im Hier und Jetzt und bei sich selbst zu sein, kann eine wunderbare Grundlage sein.
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Trivia:
„Der Begriff Rōnin wird im modernen Japan auch für junge Leute benutzt, die die Zulassungsprüfung für die Universität oder die Oberschule nicht bestanden haben und sich daraufhin ein Jahr lang erneut auf die Prüfungen vorbereiten und währenddessen lernen und nebenbei arbeiten.“ (Quelle: Wikipedia) Es ist schön, dass dieser Rōnin-Status nicht immer zu Ehrlosigkeit und Seppuku führen muss, sondern auch das Lernen fördern kann. Doch vielleicht findet man eines Tages noch eine andere, bessere, schönere Metapher dafür.
Als einer der bekanntesten Rōnin, der sogar die Kurve gekriegt hat, gilt Miyamoto Musashi: „Er wurde 1584 in Miyamoto, in der Provinz Mimasaka, geboren und sein voller Name lautete Shinmen Miyamoto Musashi-no-kami Fujiwara no Genshin. Musashi war eigentlich ein Rōnin, ein Samurai aus einer verarmten adeligen Familie vom Land, ohne einen Lehnsherrn, dem er durch einen Treueeid verpflichtet gewesen wäre. Bereits in seiner Jugend verspürte er eine starke Sehnsucht, den Weg des Kriegers einzuschlagen und zeit seines Lebens war es sein Ziel, ein vollendeter Schwertkämpfer zu werden.“ (Quelle: Neue Akropolis) Später hat Musashi „Das Buch der fünf Ringe“ geschrieben, das nicht nur wegen dieser Zahl sehr lesenswert ist und eine Quelle für Lebensweisheiten und (erfreulicherweise auch friedliche) Managementstrategien bietet.
Links:
Hinter der Paywall geht es hier zum Interview: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/wissen/konzentration-ablenkung-smartphone-94536
Weitere Details zu den 47 Rōnin: https://de.wikipedia.org/wiki/47_Rōnin
Mehr zu Gloria Mark: https://gloriamark.com
Und falls sich jemand spätestens jetzt so richtig für Samurais interessiert, kann ich dieses Museum in Berlin sehr empfehlen: https://samuraimuseum.de